Uwe Gensheimer
Hätten wir Gold geholt, wäre der Abschied leichter.
17. September 2021
Uwe Gensheimer hat seine Nationalmannschaftskarriere beendet. Ein Gespräch über Tokio, Freizeitpläne und das Erbe um die Kapitänsbinde.
Die Nachricht, dass du deine Nationalmannschaftskarriere beendest, hat in den Medien regelrecht eingeschlagen. Was waren deine Beweggründe für diese Entscheidung?
Die Nationalmannschaft nach so vielen Jahren zu verlassen, ist keine Entscheidung, die man spontan fällt. In den letzten Monaten hatte ich ab und zu das Gefühl, dass ich nicht meine beste Leistung abrufe und so meinen eigenen Erwartungen nicht gerecht werde. Ich war schon immer der Meinung, dass man genau an diesem Punkt aufhören sollte. Wenn man nicht mehr die beste Version von sich selbst zeigen kann, müssen andere die Chance bekommen. Mit dieser Entscheidung wollte ich für die Jungs, die früher zu mir aufgeschaut haben und längst selbst Weltklassespieler sind, den Weg in die Nationalmannschaft freimachen.
Marcel Schiller ist einer dieser Handballer, er hat dich früher gern als sein Vorbild bezeichnet.
Das hat er mir auch erzählt und das ehrt mich natürlich.
Wie war das Echo der Nationalmannschaftskollegen, nachdem du deine Entscheidung verkündet hast?
Es gab sehr emotionale Reaktionen und viele persönliche Nachrichten. Einige meinten, es war ihnen eine Ehre, mit mir zusammen zu spielen, andere sagten, sie würden mich in Zukunft in der Rolle des Kapitäns vermissen. Solche Rückmeldungen machen einen natürlich stolz, zumal die Spieler ja diejenigen sind, die so einen Schritt vielleicht am besten nachempfinden können.
„Papa, wann kommst Du wieder nach Hause?“
Auch Steffen Weinhold tritt aus der Nationalmannschaft zurück. Habt ihr euch im Vorfeld dazu ausgetauscht?
Dieser Schritt ist eine individuelle Entscheidung, doch als wir das Team damit am letzten Abend in Tokio zusammen konfrontiert haben, wurde die eine oder andere Träne verdrückt. Man wird schon etwas melancholisch, wenn man über die vielen gemeinsamen Jahre in der Nationalmannschaft nachdenkt. Gegen Steffen trat ich bereits mit 14 Jahren in der süddeutschen Auswahl an, wir haben alle Stationen in der Jugendnationalmannschaft gemeinsam durchlaufen und wir beide tragen seit 20 Jahren den Adler auf der Brust.
Mehr als dein halbes Leben …
Genau, und es geht dabei auch um viel mehr als nur um den sportlichen Aspekt, das, was jeder Zuschauer zu Hause sieht. Es geht um ganz viele gemeinsame Erlebnisse rund um den Handball, die man miteinander teilt und sein ganzes Leben nicht vergessen wird. (Anm. der Red.: mehr dazu in der Kolumne von Uwe Gensheimer.)
Was genau hat letztlich den Entscheidungsprozess in Gang gesetzt?
Das war ein trauriger Blick meines Sohnes im Januar 2021 und die Frage: „Papa, wann kommst Du wieder nach Hause?“
Hättest du weitergespielt, wenn sich Team Deutschland als Olympia-Sieger aus Tokio verabschiedet hätte?
Vor den Olympischen Spielen war mir klar, dass dies mein letztes Turnier wird. Hätten wir Gold geholt, wäre mir ein Abschied noch leichter gefallen. Doch statt mit „Hollywood- Happy End“ ging Olympia für unsere Mannschaft mit dem Ausscheiden im Viertelfinale zu Ende. Das hätten wir uns alle anders gewünscht.
„Ich trug die Kapitänsbinde über sieben Jahre.“
Du hast im Vorfeld nichts zu deinem Vorhaben verraten.
Ich wollte mich komplett auf die Spiele konzentrieren und keine Unruhe stiften, die ja durch so eine Ankündigung automatisch entsteht – die Kapitänsbinde trug ich immerhin über sieben Jahre.
Wie würdest du den Auftritt der Nationalmannschaft in Japan beurteilen?
Die Weltspitze ist extrem eng beisammen, und uns fehlte nicht viel. Die ersten zwei Spiele waren knapp, in unserem Vorrundenspiel hatten wir den späteren Olympiasieger am Rande einer Niederlage. Gegen Topteams wie Frankreich und Spanien mit einem Treffer zu verlieren und Norwegen mit fünf Toren zu schlagen, da kann man nicht von einer Blamage sprechen. Leider haben wir es im Viertelfinale nicht geschafft, an diese Leistung anzuknüpfen. Vermutlich war jeder von uns nach der Auslosung mit dem Gegner für das Viertelfinale komplett einverstanden, auch wenn die Ägypter, sowohl körperlich als auch spielerisch, in den letzten Jahren zu einer sehr guten Mannschaft zusammengewachsen sind. Dennoch haben wir uns im Vorfeld gesagt: klar, nehmen wir.
Ist deinem Team am Ende etwas die Kraft ausgegangen?
Das wäre eine zu einfache Erklärung. Die anderen Mannschaften haben ja genauso viele Spiele wie wir bestritten. Wir haben den ägyptischen Torwart zu arg warmgeschossen und konnten keine optimalen Antworten in diesem Spiel finden.
Hat sich die Liga mit der XXL-Saison 2020/21 keinen Gefallen getan und wäre bei weniger Belastung mehr für das deutsche Team drin gewesen?
Tja, hätte, wäre, wenn … Ich bin kein Freund von Theorien mit zu viel Konjunktiv. Sicherlich wäre es für die Nationalmannschaft von Vorteil gewesen, wenn die Spieler aufgrund der langen Saison weniger müde gewesen wären. Auf der anderen Seite wissen wir aber auch nicht, welche Konsequenzen die einzelnen Clubs heute zu schultern hätten, wenn man die Sponsorenvereinbarungen und TV-Verträge in der Saison plötzlich in der Form nicht hätte umsetzen können. Vielleicht gäbe es ohne die XXL-Saison sogar Schwierigkeiten, den Profihandball in Deutschland auf diesem Niveau zu halten.
„Ich wollte den Tag meines Abschieds selbst bestimmen und nicht so lange warten, bis ich irgendwann keine Einladung mehr vom Bundestrainer bekomme.“
Die Medien waren nicht unbedingt immer nett zu dir. Hast du dich mit negativen Überschriften zu deiner Leistung oder der teilweise kritischen Bilanz in deiner Rolle des Kapitäns beschäftigt?
Ich lasse seit einigen Jahren solche Aussagen und negative Artikel nicht so nah an mich ran. Vielleicht habe ich früher zu viel darauf gegeben. Auf jeden Fall versuche ich inzwischen, Kommentare zu solchen Äußerungen zu vermeiden. In unserer heutigen, schnelllebigen Zeit werden teilweise Schlagzeilen ohne Rücksicht auf Verluste generiert. Aussagen werden einfach aus dem Kontext gerissen und zu Überschriften mit Skandal- Potenzial gemacht. Ich werde mich nie daran gewöhnen, aber ich kann für mich selbst entscheiden, wie intensiv ich mich damit beschäftige.
Gehen andere Länder anders mit ihren Helden um?
Das denke ich schon. In Paris habe ich das selbst erleben dürfen, wie viel Respekt Sportlern entgegengebracht wird.
Haben Medienberichte bei deinem Rücktritt auch eine Rolle gespielt?
Vielleicht haben die unterbewusst dazu beigetragen, so dass ich mich persönlich zeitweise sehr unter Druck gesetzt habe. Aber einzelne kritische Töne waren nicht ausschlaggebend für meine Entscheidung. Es war vielmehr der Punkt der Freiwilligkeit, der für mich immer wichtig war. Ich wollte den Tag meines Abschieds selbst bestimmen und nicht so lange warten, bis ich irgendwann keine Einladung mehr vom Bundestrainer bekomme.
„Wenn dich die Handballwelt mehrfach zum besten Spieler auf der Position kürt, dann willst du dieses Prädikat auch immer wieder bestätigen.“
Es gibt kaum einen Handballer, um dessen Person sich so oft auch „Experten-Fights“ entflammten. Ein Ex-Handballer äußerte Kritik, ein anderer sprang für dich in die Bresche und forderte Respekt für dich ein.
Kritik kann man immer äußern und das gehört einfach zu diesem Spiel dazu. Doch mit unsachlichen Aussagen und blöden, populistischen Zitaten während eines Turniers versuche ich mich wenig zu beschäftigen. Obwohl man sich teilweise dann doch in der Ferne die Frage stellt: Was hat der Idiot schon wieder gesagt? (lacht) Und manchmal sind solche Gedanken sogar unfair, denn, wie gesagt, ab und zu werden Zitate komplett aus dem Kontext gerissen.
Werden solche Meinungsverschiedenheiten unter Sportlern im Nachhinein auf dem kurzen Dienstweg, mit einem Telefonat, geklärt?
Das ist sicherlich der Weg, den man gehen sollte.
Warum wird bei dir immer automatisch das Niveau Weltspitze vorausgesetzt?
Wahrscheinlich habe ich die Latte selbst so hochgelegt, da ich über zehn Jahre auf meiner Position zu den besten Spielern der Welt gehörte. Ich persönlich habe von mir selbst auch erwartet, dass ich immer abliefere. Wenn dich die Handballwelt mehrfach zum besten Spieler auf der Position kürt, dann willst du dieses Prädikat auch immer wieder bestätigen.
Wie viele Rekorde hast du in deinem Leben aufgestellt?
Das waren bestimmt einige, aber ich könnte sie jetzt nicht aufzählen. Sich in den ewigen Ranglisten wiederzufinden, ist schon klasse, aber nichts glänzt so schön wie eine Goldmedaille. Und der große Titel blieb mir mit der Nationalmannschaft leider verwehrt. Das schmerzt natürlich.
„Schon beim nächsten Lehrgang der Nationalmannschaft wird sich herauskristallisieren, wer die Kapitänsbinde trägt.“
Unter welchen Umständen würdest du über ein Comeback nachdenken?
Wir haben viele gute Linksaußen in Deutschland, die jetzt nachkommen werden. Auf der Position müssen wir uns für die Zukunft keine Sorgen machen. Ein Comeback ist für mich deswegen schwer vorstellbar.
Wer könnte dich als Kapitän beerben?
Zunächst muss man sehen, wie Alfred Gislason die Mannschaft aufstellt und welche frischen Gesichter das neue Team dann prägen. Das Zeug zum Kapitän haben mehrere Spieler, Patrick Wiencek, Finn Lemke oder Philipp Weber fallen mir da spontan ein. Sie bekleiden innerhalb der Mannschaft derzeit die wichtigste Rolle und beide machen aktuell auch die Ansagen. Aber eine Empfehlung braucht man da gar nicht aussprechen. Schon beim nächsten Lehrgang der Nationalmannschaft wird sich herauskristallisieren, wer die Kapitänsbinde trägt.
Was machst du im Januar 2022?
Das ist eine sehr interessante Frage (lacht). Ich habe kürzlich darüber nachgedacht, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben sogar frühzeitig einen Winterurlaub buchen könnte. Ob es allerdings dann zum Jahreswechsel in die Berge oder an den warmen Strand gehen soll, konnte ich bisher noch nicht entscheiden.