Matthias Musche

Magic Matze

Aus der Handball Inside #54

02. Januar 2024

Ob Meisterschaft oder Champions League: Die Ziele von Matthias „Matze“ Musche, 31, wurden zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Ein Gespräch mit dem Magdeburger über seine Heldenreise mit Happy End.

Sie standen schon 2001, im Alter von neun Jahren, als kleiner Fan auf dem Magdeburger Rathausbalkon …
Matze: Das Bild ist inzwischen bekannt. Damals habe ich bereits beim SCM Handball gespielt, und Sven Liesegang, der Vater meines Kumpels, der selbst Teil der Meister-Mannschaft war, hat uns einfach zur Meisterfeier mitgenommen. Von da oben zu sehen, wie die Fans das Team bejubeln, war sehr beeindruckend für mich.

Haben Sie da beschlossen, dass Sie das später auch als Teil der Mannschaft erleben wollen?
Matze: Es hat auf jeden Fall dort angefangen, dass Profihandball mein Ziel und Traum wurde. Wobei ich in meine Karriere wortwörtlich hineingewachsen bin. Mein Opa war schon Handballer, mein Vater war Profi in der ersten DDR-Liga, so war mein Weg fast vorgezeichnet. Da war nicht viel mit Aussuchen.

Durften Sie sich in anderen Sportarten ausprobieren?
Matze: Gezwungen wurde ich zum Handball natürlich nicht. Aber wenn du schon im Kinderwagen jede Woche in die Halle geschoben wirst, dann willst du auch gar nichts anderes machen. Nebenbei habe ich ein bisschen Fußball gespielt. Bei einem Verein dafür angemeldet habe ich mich allerdings nie, weil Handball, seit ich mich erinnern kann, immer die absolute Nummer Eins war.

Welche Rolle hat Ihr Vater später gespielt? Ist er eher ein Unterstützer oder vielleicht sogar ein Kritiker?
Matze: Ich habe meinen Eltern ganz viel zu verdanken. Sie haben mich mit viel Aufwand und Geduld unterstützt und mein Vater war mein absolutes Vorbild. Auch heute telefonieren wir noch nach jedem Spiel und reden ganz entspannt über die 60 Minuten. Er ist nicht derjenige, der im Publikum sitzt und herumschreit, aber ich denke, dass er sehr stolz darauf ist, was ich erreicht habe. Beim Champions League-Sieg hat er noch mehr geweint als ich.

War er in Köln dabei?
Matze: Ja klar! Meine Eltern und meine Frau saßen im Publikum. Es war und bleibt für uns alle ein unvergessliches Erlebnis und für mich der absolute Höhepunkt meiner bisherigen Karriere.

Apropos Karriere: Ihr Bundesligadebüt ist zwölf Jahre her. Können Sie sich noch an den 2. Oktober 2011 erinnern?
Matze: Das werde ich nie vergessen. Wir haben mit sechs Toren gegen Gummersbach geführt, als ich in den letzten Minuten reinkam. Ich war unglaublich heiß und aufgeregt, wollte auch allen zeigen, dass ich da bin. In dem Spiel habe ich noch kein Tor gemacht, allerdings bekam ich bereits nach 20 Sekunden meine erste Zeitstrafe in der Bundesliga. Den ersten Ball konnte ich dann gegen Wetzlar versenken. Der erste Gratulant nach meinem ersten Bundesligator war übrigens mein damaliger Mitspieler und heutiger Trainer, Bennet Wiegert.

Was hatte aus Ihrer Sicht der SCM damals 2011 noch mit dem Erfolgsclub Anfang der 2000er gemeinsam?
Matze: Als ich in die Mannschaft kam, war der Glanz der alten Tage etwas verblasst. Wir wussten alle um die große Tradition des Clubs. Aber der Verein hatte auch unruhige Zeiten hinter sich und wir spielten im Mittelfeld. Innerhalb des Teams herrschten aber noch ganz andere Hierarchen zwischen Jung und Alt als heutzutage. Das war von früher übriggeblieben.

Man nannte das auch gerne das Magdeburger Stahlbad.
Matze: Ja, die jungen Spieler hatten nicht viel zu melden. Heute ist das alles komplett anders bei uns.

Der SCM soll früher auch eine berühmte Raucherkabine mit Lounge-Atmosphäre gehabt haben, gemütlich eingerichtet mit Postern und Palmen.
Matze: Die Raucherkabine gab es tatsächlich noch vor zwölf Jahren. Das hat sich allerdings in den darauffolgenden Jahren schnell geändert. Aktuell haben wir keinen einzigen Raucher im Team. Das zeigt ja auch, wie sich das alles im Laufe der Zeit gedreht hat. Früher hat man vor dem Training gerne noch kurz eine geraucht und heute trinken wir noch schnell einen Rote-Bete-Saft (lacht).

Was bedeutet der SCM für Sie persönlich?
Matze: Magdeburg ist meine Heimat. Ich bin hier geboren und spiele fast mein ganzes Leben beim SCM. Der Stadt und dem Verein habe ich viel zu verdanken. Wenn ich so zurückdenke, erfüllt mich dieser Weg vom SCM mit sehr viel Stolz, denn wir waren vor zwölf Jahren ein Verein, der um Platz sechs bis Neun in der Liga gespielt hat. Durch die akribische Arbeit aller Verantwortlichen und mit mehr Ruhe im Verein wurde ermöglicht, dass wir uns Schritt für Schritt auch sportlich verbessern konnten. Und heute stehen wir da, wo wir stehen. Das ist die Geschichte, wie wir uns von einem Club im Mittelfeld hin zur internationalen Spitze entwickelt haben – und ich war dabei!

In Magdeburg formuliert man die Ziele traditionell etwas vorsichtiger. Sie wiederum haben schon 2020 im Interview mit HANDBALL inside die Meisterschaft als Ziel ausgerufen.
Matze: Ja, und ich habe das damals absolut ernst gemeint. Wir hatten eine gute und funktionierende Mannschaft, die sich auf Platz drei vorgekämpft hat. Es war klar, dass die eine oder andere Verstärkung noch dringend fehlt und dass der Weg von Platz Drei an die Spitze der Liga auch noch mal steinig wird. Mir war aber auch bewusst, dass wir enormes Potenzial besitzen. Benno hat den Kader nach seinen Vorstellungen zusammengestellt und wir merkten, dass plötzlich auch sehr gute Spieler deutliches Interesse zeigten, für den SCM zu spielen. Ich weiß noch, wie ich 2018 bei der Vertragsverlängerung bis 2024 zu Mark Schmedt gesagt habe: „In den nächsten fünf Jahren werden wir Deutscher Meister.“ Daraufhin sagte er: „Das ist unser Ziel.“

 „DER ERSTE GRATULANT NACH MEINEM ERSTEN BUNDESLIGATOR WAR BENNET WIEGERT“

War 2022 die Party auf dem Rathausbalkon schöner als 21 Jahre zuvor?
Matze: Mit neun Jahren war das schon überwältigend. Wenn du aber da oben stehst, weil du die Meisterschaft mit der Mannschaft selbst erarbeitet hast, das ist dann schon ein Wahnsinn. So richtig gecheckt, was wir da eigentlich erreichen konnten, habe ich allerdings erst danach im Sommerurlaub. Was im Sport so krass ist: Du kannst dich nicht ewig auf einem Titel ausruhen. Im August geht alles wieder bei null los.

Die Meisterschaft 2022 war auch so besonders, weil Sie erst kurz vor der Rückrunde, nach einer 13-monatigen Zwangspause, Ihr Comeback gefeiert haben.
Matze: Vor diesem Spiel, im Dezember 2021, war ich so aufgeregt wie nie zuvor. Das zeigte mir auch, wie weit ich zwischendurch von dem Profisport-Business weg war.

Wie konnten Sie sich während der Reha, über ein Jahr, bei Laune halten?
Matze: Als der Unfall passiert ist, habe ich noch gar nicht wahrgenommen, wie schlimm die Konsequenzen sein können. Ich hatte ja alles: Meniskusschaden, Innenband und Kreuzband gerissen, Knorpelschaden, Bruch des Oberschenkel-Knochens … Da habe ich einfach mal alles mitgenommen, was geht. Quasi eine sportliche Nahtoderfahrung. In ein tiefes Loch bin ich allerdings erst nach der OP gefallen. Ich wusste nicht, wie es weitergeht und ob ich je wieder nur annähernd an mein eigenes Level rankomme. In der Situation hat mir das Umfeld im Reha-Zentrum in Innsbruck, die Ärzte, die Physiotherapeuten und die Herzlichkeit aller Beteiligten dort, wirklich viel geholfen. Die Gespräche waren wie Mentalcoaching. Irgendwann kommt der Punkt, wo du wieder laufen, dann sogar langsam springen kannst. Es dauert allerdings ewig und nach einer Reha ist nicht alles vorbei. Du kommst nicht zurück und bringst sofort deine beste Leistung. Du musst dich einfach peu à peu heranrobben.

Wieso haben Sie sich für Innsbruck entschieden?
Matze: Ich habe vor der OP mehrere Kniespezialisten konsultiert. Beim Gespräch mit Doktor Fink musste ich ihm versprechen, dass, wenn er mich operiert, ich nicht nur an meinem Comeback arbeite, sondern daran, nach der OP noch besser zu sein als vor der Verletzung. Diesen Satz werde ich mein ganzes Leben nicht vergessen. Da hatte ich fast Tränen in den Augen und mir war klar, dass er mich operieren muss.

Spielen Sie besser als vor der OP?
Matze: Ich mache vielleicht nicht so viele Tore wie in der Saison, als ich Torschützenkönig wurde, doch die Situation von damals kann man nicht mit der heutigen vergleichen. In der Gesamtbetrachtung bin ich heute besser als vor der Verletzung, und das macht mich auch sehr stolz.

Also hat die Verletzung am Ende auch etwas Positives?
Matze: Es gibt mehrere positive Aspekte, so hart die Zeit auch war. Ich habe in Innsbruck unglaublich coole Leute kennengelernt, mein Netzwerk erweitert und die Region Tirol und Innsbruck lieben gelernt. Heute kann ich sagen, ich möchte die Zeit und Erfahrungen durch die Verletzung nicht mehr missen.

Bei Ihrem Comeback gab es auf der Tribüne der GETEC-Arena Standing Ovation.
Matze: Zu sehen, wie sehr mich die Zuschauer vermisst haben, war eine große Ehre für mich.

Am Ende der Saison wurden Sie Meister – eine Heldenreise mit Happy End. Ändert sich das Lebensgefühl, wenn man so einen sportlichen Meilenstein erreicht hat?
Matze: Nein. Du kannst stolz sein und ein paar Tage feiern, doch dann startet das Sportlerleben wieder bei null. Glücklicherweise haben wir ein Jahr später einen noch größeren Titel geholt!

Sie haben zum ersten Mal Champions League gespielt und bereits am Anfang der Saison das Ziel ausgegeben, alle Spiele gewinnen zu wollen. Haben Sie also auch fest mit dem Titel gerechnet?
Matze: Ich war der Meinung, wenn wir Deutscher Meister in der stärksten Liga der Welt sind, warum sollen wir nicht auch die Champions League gewinnen? Hätte es am Ende nicht funktioniert, dann wäre es am Ende so. Doch ich habe das Mindset: Wenn wir in einem Wettbewerb mitspielen, warum sollen wir ihn nicht gewinnen? Inzwischen besitzen wirklich alle in unserem Team, gesteuert von unserem Trainer, diese Einstellung. Wenn wir nach Veszprém oder nach Paris fahren, dann wollen wir die Punkte holen. Klar, man kann bei solchen Gegnern auch mal richtig auf die Mütze bekommen und mit acht Toren verlieren. Dann musst du das auswerten, besprechen und abhaken. Wenn du dann das nächste Mal hinfährst, willst du wieder die Punkte.

„HANDBALLERISCH WAR KÖLN DAS COOLSTE, WAS ICH JE ERLEBT HABE“

Wie haben Sie den Weg zum Champions League-Titel in Erinnerung?
Matze: Wir waren in den internationalen Spielen nicht fehlerfrei und haben in der Gruppenphase sogar einiges liegen gelassen. Auf dem Weg nach Köln waren allerdings auch ein paar Highlights dabei, wie der Sieg in Paris, was uns nach der Heimniederlage gegen die Franzosen keiner zugetraut hat. Doch die Emotionalität in der LANXESS arena ist unvergleichlich. Handballerisch war Köln das Coolste, was ich je erlebt habe.

Welche Erinnerungen haben Sie an das „FINAL4-Wochenende“?
Matze: Im Nachhinein ist bei mir hauptsächlich dieses Wochenende extrem präsent. Wir sind sehr früh angereist, trafen in Köln die anderen Mannschaften, die natürlich alle das gleiche Ziel ausgegeben hatten und den Pott wollten. Ich erinnere mich noch, wie elektrisiert wir im Vorfeld waren, wie wir dann das Halbfinale gegen Barcelona knapp gewinnen konnten und dass im Team große Glücksgefühle und Erleichterung hochkamen. Allerdings nur für ein paar Minuten, denn am nächsten Tag hatten wir ja das viel, viel wichtigere Spiel. Ich weiß noch, wie wir im Hotel zu Abend gegessen haben und kann mich noch genau an das Gefühl erinnern, wie die Freude und die Anspannung im Raum gleichermaßen anstiegen. Wir waren unendlich heiß auf das Finale! Von dem Sonntag ist mir speziell noch der Moment ganz stark in Erinnerung, als beim Einlaufprozedere mein Name fiel. Wir sind wie die Gladiatoren in diese gigantische Atmosphäre eingelaufen. Das war unvergesslich. Und dann gewinnen wir dieses verrückte Spiel und danach war alles nur noch Party.

Das Team soll nach der Siegerehrung mehrere Stunden in der Kabine geblieben sein.
Matze: Wir saßen dort gemeinsam wirklich eine Ewigkeit rum. Nach Stunden sind wir dann ungeduscht abgehauen und die Party ging im Hotel weiter. Von da sind wir in eine Bar gefahren, dort feierten wir mit unseren Familien, Fans und Sponsoren bis zum Morgengrauen weiter. Dann ging es, ohne viel Schlaf, zurück nach Magdeburg. Die fünfstündige Busfahrt war genauso heiter wie unsere Ankunft in der Heimat.

Ist der Hype um das Team seit diesem Triumph noch mal gewachsen?
Matze: Das weiß ich gar nicht genau. In Magdeburg war der SCM immer schon omnipräsent, du kannst dich als Handballer nicht wirklich verstecken. Der Hype ist schon seit einigen Jahren da und das ist auch gut so. Als ich mir heute einen Döner geholt habe, stieg eine ältere Frau vom Fahrrad und sagte: „Entschuldigung, dass ich störe, aber ich wollte sagen, es ist absolut toll, was Ihr leistet.“

Sie werden natürlich als Magdeburger Kind und unverwechselbare Identifikationsfigur sofort erkannt. Nervt diese Rolle auch mal?
Matze: Nein. Ich bin das alles ganz gerne. Nur darauf reduziert zu werden, ein Magdeburger Kind zu sein, möchte ich nicht. Ich möchte, dass die Leute mich als guten Handballer wahrnehmen.

Das Wort Identifikationsfigur impliziert die Leistung – sonst würde man über Sie als Maskottchen sprechen.
Matze: Okay (lacht). Das wäre nicht so schön.

Ihr Bart macht Sie natürlich auch unverwechselbar. Stimmt es, dass ein Spruch von Jens Schöngarth für Ihren heutigen Style verantwortlich ist?
Matze: Ich würde sagen, vielleicht zu 50 Prozent.

Was hat er denn genau gesagt?
Matze: Er sagte, dass ich nach der Rasur aussehe wie sein Hintern mit acht Jahren. Ich bezweifle, dass das stimmt, der Bart bleibt dennoch dran.

Der Spruch ist aber ziemlich lustig.
Matze: Ja, er ist auch ein lustiger Kunde (lacht). Wir haben nur ein halbes Jahr zusammengespielt, aber viel zusammen gelacht.

Mit welcher Ansage sind Sie in die aktuelle Saison gestartet?
Matze: Ich habe einfach gesagt, wir wollen alle Spiele gewinnen.

Also die Deutsche Meisterschaft, den DHBPokal und die EHF Champions League?
Matze: Natürlich! Den IHF Super Globe sollte man bei der Aufzählung nicht vergessen. Den Pot haben wir schon mal geholt, darauf bin ich sehr stolz. Ob der Rest auch klappt, steht noch in den Sternen. Aber davon träumen kann man allemal.

Wie sieht es mit Ihnen und der Nationalmannschaft aus?
Matze: Das letzte Mal stand ich bei der Heim-WM 2019 im Kader. Als ich an meinem Comeback gearbeitet habe, waren für mich Einsätze mit der Nationalmannschaft Planeten weit weg. Im Hinblick auf meine langwierige Verletzung wäre die Nominierung für das DHB-Team die größte Anerkennung, die ich mir vorstellen kann.

Wie ist denn Ihr Verhältnis zu Alfred Gislason?
Matze: Ich hoffe natürlich sehr, dass ich vielleicht bei einem der nächsten Lehrgänge dabei sein darf, um mich zu empfehlen und ihn noch besser kennenlernen zu können. Ich versuche auf jeden Fall, beim SCM weiter meine Performance zu bringen und es ihm damit so schwer wie möglich zu machen.

Sie haben mal gesagt, dass Sie auch gerne im Ausland Handball spielen möchten.
Matze: Den Wunsch habe ich immer noch. Allerdings lieber erst in ein paar Jahren. Noch fühle ich mich super fit, bin extrem motiviert und aktuell mit 31 Jahren genau da, wo ich sein will: in Magdeburg.