Renars Uscins

Der Shootingstar

Aus der Handball Inside #60 6/2024

13. Januar 2025

Renars Uscins ist der Senkrechtstarter und neuer Liebling Handballdeutschlands. Wie erlebt der 22-Jährige Ruhm und Rampenlicht? Ein Ortsbesuch in Hannover.

Renars Uscins kommt auf einem Roller. Heute hat er frei. Seinen Umzug hat er gerade hinter sich, auf seiner Agenda steht „Wände anbohren und Möbel aufbauen“. Dazwischen hat er sich auf einen Kaffee mit HANDBALL inside verabredet. Die neue Wohnung hat 137 Quadratmeter. Vielleicht ein bisschen zu groß, aber es war Liebe auf den ersten Blick. Ein Altbau mit Stuck, einem endlosen Flur und großzügigen Zimmern.

Für den Umzug brauchte der 22-Jährige kein Umzugsunternehmen und auch keinen LKW. Zwei Kumpels aus der Mannschaft kamen vorbei, und in nur wenigen Stunden ging alles über die Bühne. Uscins wollte hier gerne eine komplett neue Kulisse, deshalb brachte er neben seinen Klamotten, Trainingssachen und seiner geliebten Kaffeemaschine nur wenige Möbel aus seinem 2-Zimmer-Appartment mit.

Die Wohnungssuche dauerte fast fünf Monate. Hannover ist offensichtlich eine gefragte Stadt. Selbst die „Recken-Star-Karte“, die Renars nicht gerne spielt, hätte ihm im Wettbewerb um die Maklergunst und Besichtigungstermine nicht viel genützt. Letztendlich war das Glück auf seiner Seite. Die neue Wohnsituation ist dabei beinahe sinnbildlich zu verstehen. Denn so, wie sich nun die Dimension und Einrichtung wandelt, so tiefgreifend veränderten sich das Leben des Linkshänders und seine Rolle in der Mannschaft.

Renars Uscins wechselte im Februar 2022 als vielversprechendes „Talent“ mitten in der Saison nach Hannover. Ein Rohdiamant, der zunächst ein Zweitspielrecht im Perspektivkader der Recken in der dritten Liga erhielt. Eigentlich nicht ganz nachvollziehbar, denn bereits ein Jahr zuvor hatte der Linkshänder bewiesen, dass er das Zeug zur ersten Liga hat: Bei seiner Ausleihe vom SC Magdeburg zum Bergischen HC erzielte er in 23 Einsätzen bemerkenswerte 22 Tore.

Dass er am Ende dieser turbulenten Spielzeit mit dem SCM offiziell sogar Deutscher Meister 2022 wurde, darüber kann er nur schmunzeln. „Ich saß mal auf der Bank und rutschte verletzungsbedingt in den Kader. Aber viel mehr habe ich für diesen Meistertitel nicht geleistet.“ Er feierte weder mit dem Team auf dem Rathausbalkon, noch besitzt er eine Medaille. So ein geschenktes Edelmetall würde er auch nicht wollen. Uscins ist jemand, der lieber für seine Erfolge hart arbeitet. So wie damals, als Kapitän der siegreichen U21-Nationalmannschaft, die sich bei der Heim-WM 2023 sogar mit der Goldmedaille krönte. Dass er direkt auch im Verein so durchstarten könnte, hatte er nicht erwartet. Im Interview mit HANDBALL inside zeigte er sogar Verständnis für das Dilemma vieler Bundesliga-Trainer, die sich im Dauerrennen um Punkte und Tabellenplätze auf keine Experimente mit jungen Rückraumspielern einlassen. „Auf der Position kannst du mal in vier Angriffen auch viermal den Ball verlieren, und das ist wohl zu risikoreich.“ Auch jede Frage nach einem Direktticket für den A-Kader wischte er damals mit der Bemerkung beiseite, dass die Qualität da doch viel, viel höher sei. Und er wusste, wovon er spricht, schließlich hatte er kurz vor der U21-Heim-WM bereits sein Debüt in Alfred Gislasons Team gegeben.

DER STAMMSPIELER
„Ich war dabei, als Renars‘ Stern aufging“, schwärmt Marius Steinhauser. Im März 2024 wollte sich der Kapitän der Recken die Spiele des deutschen Teams zur Olympia-Qualifikation ansehen und bekam von seinem Freund ein Ticket für die ZAG arena. „Renars wurde völlig zu Recht gleich dreimal zum „Man of the Match“ gekürt. Was der Junge da gezeigt hat, war einfach von einem anderen Planeten.“

Obwohl Steinhauser Dauergast der Arena ist, sitzt er selten auf der Tribüne. Dieser Tag wird ihm besonders im Gedächtnis bleiben, denn diesmal war er auch noch mittendrin in der „Uscins-Familien-Bubble“. „Armand, der Papa von Renars, hatte absolute Selbstkontrolle und lächelte stolz, vielleicht zwei Millimeter breiter als sonst. Seine Mama hingegen flippte bei jeder Aktion aus, rief laut den Namen ihres Sohnes und ging total mit.“ Der Recken-Kapitän war sich schon da recht sicher: Sein junger Freund sollte sich für den Sommer nicht viel vornehmen – er muss einfach in den Olympia-Kader!

Uscins selbst nahm an diesem Wochenende eine ganz andere Erkenntnis mit. Er wunderte sich, warum seine zehn Tore gegen Algerien von der Presse „so viel mehr gehypt“ wurden als beispielsweise die gleiche Anzahl an Treffern gegen Balingen. Sein Fazit: Es geht nicht immer nur rein um das Leistungsniveau, sondern auch um die Nationalmannschaft!

„Du hast mich jetzt trotzdem in die Rente geschickt.“

SPIEL SEINES LEBENS
Auch die Medien erklärten das Olympia-Viertelfinalspiel zum„Spiel seines Lebens“. Die spektakuläre Aufholjagd, das Momentum, die pure Dramatik und das unerwartete Happy End in diesem Krimi bleiben absolut einmalig. Die Begegnung mit Gastgeber Frankreich war eines dieser legendären Wahnsinnsspiele, über die man noch in einem Vierteljahrhundert gerne sprechen wird. Mittendrin: der junge und rotzfreche Renars Uscins. Der Linkshänder dominierte nicht nur die entscheidenden Momente des Spiels, sondern erzielte sensationelle 14 Tore gegen Gastgeber Frankreich. Auch die Bilder, die der neue Star des internationalen Handballs nach dem Abpfiff lieferte, brannten sich schnell ins Gedächtnis ein. Uscins, der Matchwinner, ging auf „König Karabatic“ zu, der gerade sein allerletztes Spiel absolvierte. Der junge Mann bedankte sich bei dem Grandseigneur des Handballs für alles, was er für den Sport geleistet hatte. Karabatic, „The Goat“, erwiderte die Komplimente wohl am Ende mit einem Augenzwinkern: „Du hast mich jetzt trotzdem in die Rente geschickt.“ Die Begegnung mit einem weiteren Star wird Uscins ebenfalls in Erinnerung bleiben. In der Mensa des Olympischen Dorfes entdeckte das DHB-Team die amerikanische Turnerin Simone Biles. Ein Foto mit der Ausnahmesportlerin, über die im Sommer die ganze Welt sprach, kam jedoch nicht zustande. „Wir haben sie während des Essens angesprochen, und das fand sie gar nicht so lustig.“ Solche unpassenden Momente für Fan-Wünsche kennt inzwischen auch Uscins selbst. Aus Paris kehrte er nicht nur als Olympiamedaillen-Gewinner zurück, er wurde auch ins All-Star-Team gewählt. Und seine plötzliche Popularität zeigte sich nicht nur auf Social Media, wo sich die Zahl seiner Follower innerhalb kurzer Zeit verdreifachte. Er wurde angesprochen, angerufen, angeschrieben und angestupst – gefühlt jeder wollte plötzlich etwas von ihm.

Die Grenzen begannen zu verschwimmen. Ein Autogramm in der Halbzeitpause oder ein Foto am Spielfeldrand kurz vor dem Anpfiff wären für jeden Profi eigentlich ein No-Go. Hannovers Nummer 10 musste jedoch erst lernen, Nein zu sagen. Dazu kamen noch Ehrungen, Veranstaltungen, Fan-Treffs und Presseanfragen im dreistelligen Bereich. „Eigentlich bin ich der Typ, der es jedem immer recht machen will“, gesteht er. Doch irgendwann nahm das Interesse an seiner Person derart zu, dass er eine klare Grenze ziehen musste.

Normalerweise schätzt Uscins die Aufmerksamkeit der Medien. Über sein Handballspiel sprechen zu dürfen, ist schließlich eine schöne Form der Anerkennung. Doch irgendwann konnte er sich nicht mehr hören. „Wenn ich 20 Mal nach den letzten Sekunden des Frankreichspiels gefragt werde, kann ich ja nicht 20 Mal etwas anderes erzählen“, sagt er. Auch die paar Tage Auszeit in Dessau bei seinen Eltern reichten nicht für einen „nötigen Reset“. Sein Kopf blieb voll, und die Akkus waren für mehrere Wochen leer.

„Ich habe die komplette 2. Liga durchgespielt.“

Auf die Frage, ob das Viertelfinalspiel tatsächlich das Spiel seines Lebens war, reagiert der Recken-Star nachdenklich. „Schon, ja. Aber wenn ich an dieses Match denke, fallen mir auch die Szenen ein, wo ich Fehler gemacht habe. Es wurde ja so erst spannend, weil wir es über längere Strecken nicht geschafft haben, besser zu performen.“

Als Kind wollte Uscins der beste Spieler der Welt werden. Der zweitjüngste von vier Geschwistern pinselte sich zwei Handballtore an die Wand seines Kinderzimmers und trug ganze Liga-Spiele als One-Man-Show mit sich aus. Uscins sprang hoch, passte den Ball gegen die Wand und versenkte ihn zwischen den aufgemalten Pfosten. Wenn er dann völlig verschwitzt aus dem Zimmer kam, verkündete er seinem Vater nur das Ergebnis.

„Ich habe die komplette 2. Liga durchgespielt. Wie ich es mit den Regeln gehalten habe, weiß ich nicht mehr genau, aber ich erinnere mich gut an den Kreis, den ich für den perfekten Absprung aufmalte, und dass ich mit großer Leidenschaft auf allen Linkshänder-Positionen dabei war“, sagt er und lacht.

Auch heute will er immer noch der beste Spieler sein – der Beste für sein Team. Das ist ein wesentlicher Unterschied. Er betrachtet sich nicht als Individualisten, den allein die eigenen Treffer glücklich machen. „Ich möchte auf keinen Fall jemand sein, der nur die eigenen Torchancen sucht und damit dem Kollektiv seinen Spielstil aufzwingt“, betont er. „Denn so ein Spieler macht ein Team auf keinen Fall besser, egal wie talentiert er ist.“ Im Fokus jedes Stars sollte idealerweise das sportliche Miteinander und der Teamerfolg stehen, sowie der Wille, sich ständig weiterzuentwickeln. Uscins benötigt Zeit, um in einem Verein richtig anzukommen. Vertrauen ist ihm wichtig. Und obwohl er seine Komfortzone gerne verlässt, braucht er eine persönliche Wohlfühlzone. „Ich könnte auch nicht einfach für zwei Jahre in einem arabischen Land für viel Geld unterschreiben und dann weiterziehen.“ In Hannover fühlt sich Uscins zu Hause. „Ich habe viele Freunde gefunden und verbringe meine Freizeit am liebsten hier.“ Doch auch Magdeburg, wo er in der Sportschule zu einem echten Handballer geformt wurde, zählt zu seinem Zuhause. „Mein Café würde ich beispielsweise am liebsten dort eröffnen“, spricht der Hobby-Barista aus ihm. Auch Dessau, wo Uscins Eltern bis heute leben, gehört sicherlich zu seinem Zuhause, ebenso wie Lettland, wo er geboren ist. Schließlich ist Zu Hause dort, wo das Herz ist …

HOBBY-BARISTA
„Ich erinnere mich noch an unsere Wohnung in der Stadt und an die Zeit, die ich als Kind bei meiner Oma auf dem Land verbracht habe.“ Der 22-Jährige hat den Geschmack von sonnengereiften Tomaten ebenso gut in Erinnerung wie das Lächeln seiner Oma, während sie liebevoll den Milchbart des damals Vierjährigen abwischte. Auch die angenehme Wärme und der süßliche Duft der frisch gemolkenen Milch oder der Bottich im Garten, den er als improvisierte Dusche nutzte, sind ihm lebhaft im Gedächtnis geblieben.

Uscins ist es wichtig, woher er kommt. „Zu Hause sprechen wir immer Lettisch miteinander. Es wäre ganz seltsam, wenn mich meine Mutter plötzlich auf Deutsch ansprechen würde.“ Bodenständigkeit bedeutet für ihn auch, verwurzelt zu sein. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum der Senkrechtstarter so gerne über seine Kindheit, seine Oma und die Idylle Lettlands, Plumpsklo inbegriffen, erzählt. Bisher klingt seine Geschichte wie die Seiten eines Romans aus dem vorletzten Jahrhundert.

Die Fortsetzung wiederum erinnert an den Refrain eines Kinderliedes: „Meine Oma ist eine ganz patente Frau.“ Denn die besagte betagte Dame verfolgt, ganz up to date, die Karriere ihres Enkels. Auf ihrem Handy ist die HBL-App installiert, und wenn sie Renars sprechen möchte, meldet sie sich gerne per FaceTime. Dank 4G hat sie mitten in der lettischen Natur einen wesentlich besseren Empfang als so einige Reisende in der Deutschen Bahn. „Das viel zitierte Klo gibt es übrigens auch nicht mehr“, klärt Uscins auf. „Wir sind gerade dabei, das Haus zu modernisieren, inklusive Toilette und Badezimmer.“ In Cesis, zu deren bekanntesten Söhnen auch Renars Uscins gehört, kann man zwar auch im nächsten Sommer noch unter freiem Himmel duschen, aber das muss man dann nicht mehr.

Dass der junge Mann mit dem Adler auf der Brust spielt, ist keineswegs so selbstverständlich, wie man denken könnte. Wenn er wollte, könnte er auch zusammen mit Melsungens Star Dainis Kristopans für Lettland auflaufen. Und es ist noch nicht lange her, dass gleich zwei Herzen in seiner Brust schlugen: bei der EURO 2020, am 13. Januar 2020, als Deutschland gegen Lettland ins Zittern geriet.

Nach 60 Minuten gab es einen knappen Sieg, und das Team von Bundestrainer Christian Prokop zog mit 28:27 in die Hauptrunde ein. „Ich war sogar in Trondheim in der Halle! Es war ein ganz schwieriges Spiel für mich.“ Die Reise war nur mit einem Entschuldigungsschreiben an das SCM-Sportinternat möglich, doch sowohl die Schule als auch der Verein zeigten Verständnis. Der Gegner des deutschen Teams war die Mannschaft unter der Leitung des lettischen Nationaltrainers Armands Uscins …

„Es war für mich schon immer klar, dass ich in der deutschen Nationalmannschaft spielen möchte“, sagt Uscins. Jetzt ist er nicht nur Teil des Teams, mit 22 Jahren gehört er sogar zum Stammkader von Gislasons Auswahl. Um entsprechende Spielzeit muss er nicht kämpfen. Vielmehr geraten seine Trainer wegen ihm in heftige Diskussionen. Es geht nicht ohne, meint der eine, es war zu viel, sagt der andere … „Irgendwo kann ich beide Seiten verstehen“, sagt Uscins und wirkt dabei besonders erwachsen. „Wir haben lange spekuliert, wer wohl die neue Königsposition im DHB-Team bekleidet“, sagt Freund Marius Steinhauser. „Ich würde sagen, wir haben ihn gefunden.“ Doch der Handballer, der aktuell überall für Furore sorgt, kann nicht „nur“ Handball. „Ich brauche unbedingt auch etwas für meinen Kopf. Wenn ich aktuell mein Studium nicht hätte, würde ich mit irgendeinem Hobby starten, um mich auf andere Gedanken zu bringen.“ Diese Hobbys, die Uscins meint, könnten dann auch leicht ins „Nerdige“ rutschen. Wie seine Begeisterung für Flugzeugtechnik beispielsweise. „Ich hatte schon immer leichte Flugangst und wollte deshalb wissen, wieso ein Flugzeug abhebt und wie das Fliegen physikalisch funktioniert.“ Er hat sich in das Thema nicht nur eingelesen, er studierte regelrecht Aerodynamik und Technik, und mit dem Wissen wurde sein Interesse nicht weniger. Uscins begeisterte sich letztendlich so für die Luftfahrt, dass er inzwischen jeden Ablauf im Cockpit und jedes Geräusch aus dem Maschinenraum bis ins kleinste Detail erklären kann, und versetzt damit seine Teamkollegen oft ins Staunen.

Ein weiteres aktuelles Thema, das ihn beschäftigt, sind verschiedene Steuerszenarien. „In meiner neuen Wohnung kann ich sogar die Kosten für das Arbeitszimmer steuerlich geltend machen, weil ich für mein Fernstudium ein Büro benötige“, sagt er und lacht herzlich, während er seinen Zeigefinger hebt. „Und ich könnte sogar ein Abo von HANDBALL inside absetzen, weil es für mich als Handballer ja Fachliteratur ist.“

Zita Newerla